Ein interkulturelles Projekt im Geographieunterricht:

"Wanderungsgeschichten aus Bingen" – Schülerinnen erkunden die Lebensgeschichte von Migranten am Schulort

Gliederung:

1 Fachdidaktische Vorüberlegungen zum Projekt: "Wanderungsgeschichten aus Bingen"

1.1 Interkulturelles Lernen soll zur Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen befähigen

1.2 Interkulturelles Lernen als Beitrag zur internationalen Friedenserziehung

1.3 Annäherung an das Thema Migration über Lebensgeschichten von Migranten

1.4 Lernziele des Projekts

2 Durchführung des Projekts: "Wanderungsgeschichten aus Bingen"

2.1 Prä-Projekt-Phase: Motivation der Schülerinnen

2.2 Durchführung der Befragung und Gestaltung der Plakate

2.3 Auswertung der Befragung im Unterricht

2.4 Darstellung der Ergebnisse: Auszüge aus den Schülerplakaten

3 Nachbetrachtung des durchgeführten Projekts aus Sicht der Schülerinnen

4 Fazit: Potentielle Einsatzbereiche der Unterrichtsreihe im Geographieunterricht

5 Literatur
 

An dieser Stelle sei den Schülerinnen der Klasse 10a für ihren überdurchschnittlichen Einsatz gedankt. Die Verabredung mit den Migranten erforderte eine große zeitliche Flexibilität. Die Gestaltung der Plakate überstieg den sonst üblichen Rahmen einer Hausaufgabe im Nebenfach Erdkunde.


1 Fachdidaktische Vorüberlegungen zum Projekt: "Wanderungsgeschichten aus Bingen"

Das Projekt "Wanderungsgeschichten aus Bingen" wurde in einer 10. Klasse der Hildegardisschule in Bingen durchgeführt. Schülerinnen der Hildegardisschule, einem katholischen Mädchengymnasium, haben in der Regel weniger Kontakt zu ausländischen Mitschülerinnen und Mitschülern wie an einer staatlichen Schule. Nach Rother ist gerade in Klassen ohne nennenswerten Ausländeranteil "Kulturoffenheit und interkulturelles Lernen" zu praktizieren (Rother 1995: 6). Hier setzte das Unterrichtsprojekt an. Interviews mit Migranten sollten den Schülerinnen die Ziele interkulturellen Lernens näherbringen. Hierzu zählen die Fähigkeit zur Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturkreisen und die Einübung von "globaler Empathie, Toleranz und Solidarität" im Sinne einer "internationalen Friedenserziehung" (Rother 1995: 4)

1.1 Interkulturelles Lernen soll zur Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen befähigen


Abb. 1: Zwei deutsche Freunde

Der Scherenschnitt (Abb. 1) illustriert das Plakat zweier Schülerinnen über die Geschichte einer Migrantin aus Polen. Dargestellt sind die Deutschen aus Sicht der Polin:

"Die beiden Deutschen bezeichnen sich als Freunde, doch in Wirklichkeit wissen sie nicht viel voneinander. Jeder geht seine eigenen Wege, keiner macht sich die Mühe sich vollends auf den anderen einzulassen. Nach Ansicht der Polin sind Deutsche in großem Maße desinteressiert und gleichgültig bezüglich dem Wohlergehen ihrer Mitmenschen."
(Auszug aus dem Plakat von Anne und Catherine)

"Interkulturelles Lernen befaßt sich mit dem Fremden und Andersartigen im Alltag unserer multikulturellen Gesellschaft" (Rother 1995: 4). Das einführende Beispiel zeigt, dass die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen zur kritischen Reflexion der eigenen Kultur beiträgt. Nur wenn Jugendliche "mit ihren eigenen Erfahrungen bewußt reflektierend umgehen", sind sie auch bereit, "auf fremde Menschen anderer Lebenswelten offener zuzugehen und neugierig deren Lebenslösungen als Alternative anzuerkennen" (Tröger 1994: 12).

1.2 Interkulturelles Lernen als Beitrag zur internationalen Friedenserziehung

Das 20. Jahrhundert war das "Jahrhundert der Flüchtlinge". Das Thema internationale Migration besitzt in allen Zielländern politische Brisanz. Die aktuelle Diskussion um Einwanderungsgesetz und Zuwanderung in Deutschland stellt nur eine Facette dieses globalen Problemfeldes dar. Ziel interkulturellen Lernens im Geographieunterricht sollte es sein, die aktuelle Diskussion um die Zuwanderung mit wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen über Migrationsprozesse zu verknüpfen. Ein vertieftes Verständnis der Migrationsbewegungen bildet die Basis für eine globale Friedenserziehung.

Die Aktualität des Themas sollte die Schülerinnen auf der affektiven Ebene ansprechen. Es wäre jedoch problematisch, würde man auf dieser Ebene stehenbleiben und nur Empfindungen im Unterricht thematisieren. So fordert Kroß, dass gerade durch den "Rückbezug auf Daten und Theorien zu Ursachen, Strukturen und Folgen des Migrationsprozesses" der Fachunterricht der weiterführenden Schulen in eine Dimension vorrückt, "die für ein vertieftes Verständnis von Migrationsprozessen und deren nüchterne politische Bewertung unabdingbar ist" (Kroß 1998: 146f.).

1.3 Annäherung an das Thema Migration über Lebensgeschichten von Migranten

Die Unterrichtsreihe zum Thema Migration stellte konkrete Menschen unterschiedlicher Herkunft in den Mittelpunkt. Ausgangspunkt waren nicht abstrakte Wanderungsprozesse oder anonyme Migrantengruppen (vgl. Kroß 1998: 146). Jeder einzelne Migrant hat seine ganz persönliche Lebensgeschichte zu erzählen. Diese wurden im Unterricht thematisiert, um bei den Schülerinnen Verständnis für die Situation der Einwanderer zu fördern.

Dazu war es notwendig, den Kontakt zwischen Schülerinnen und Migranten zu ermöglichen. Die direkte Konfrontation mit dem Fremden sollte "vor Ort, in der Lebenswelt der Schüler beginnen" (Rother 1995: 5). Ideal wäre, bei ausländischen Mitschülern anzusetzen. Da die Hildegardisschule nur von wenigen ausländischen Schülerinnen besucht wird, war es notwendig, Kontakt zu gesellschaftlichen Institutionen am Schulort aufzunehmen. In Bingen sind dies z.B. der Ausländerbeirat, der deutsch-internationale Freundeskreis und die Flüchtlingsbetreuung der Caritas. Über diese Einrichtungen kam ich an Adressen von Migranten. Die Vertreter dieser Institutionen konnten mir auch mitteilen, wer besonders offen für Interviews ist und erste Kontakte herstellen. Bei der Auswahl der Interviewpartner habe ich darauf geachtet, dass unterschiedliche Migrantengruppen berücksichtigt wurden.

Um eine stärkere Identifikation der Schülerinnen mit den Migranten zu erreichen, wurden qualitative Interviews durchgeführt. Die Schülerinnen besuchten zu zweit jeweils einen Migranten zu Hause. Die Auswertung der Interviews erfolgte durch die Gestaltung von Plakaten, auf denen die Geschichte der einzelnen Migranten dargestellt wurde.

1.4 Lernziele des Projekts

Bei der Betrachtung der Lernziele lassen sich drei Ebenen unterscheiden:

1. kognitive Lernziele:
Die Schülerinnen sollten sich umfassend mit den sachlichen Grundlagen der Migration beschäftigen. Sie sollten die vielfältigen Migrationsursachen kennenlernen und sowohl die räumlichen als auch die sozialen Muster der Migration erkennen. Hierzu zählt, dass die Schülerinnen die drei Hauptgruppen von Migranten in Deutschland: Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und Aussiedler voneinander unterscheiden können.

Die Sachinformationen dienen als Grundlage für die Behandlung weiterführender Fragestellungen im Verlauf des Schuljahres. So kann beispielsweise bei der Behandlung der globalen Klimaproblematik auf Umweltflüchtlinge eingegangen werden oder in die Diskussion um die EU-Osterweiterung können Aspekte aus dem Interview mit einer polnischen Migrantin einfließen.

2. affektive Lernziele:
Der direkte Kontakt der Schülerinnen mit den Migranten sollte helfen, Vorurteile abzubauen. Den Schülerinnen "sollte Mut gemacht werden, unbefangen auf ausländische Menschen zuzugehen" (Engber 1995: 8), um dadurch Verständnis für die Situation der Einwanderer zu entwickeln.

3. instrumentale Lernziele:
Die Schülerinnen sollten grundlegende geographische Arbeitsmethoden einüben. Sie sollten lernen, wie man ein Interview durchführt und wie man sich Informationen über einzelne Migrantengruppen beschafft.

Bei der Auswertung der Interviews wurden Präsentationstechniken trainiert. Die Schülerinnen sollten lernen, wie man ein Plakat gestaltet und wie man dieses im Unterricht präsentiert.
 
 


2. Durchführung des Projekts: "Wanderungsgeschichten aus Bingen"


Abb. 2: Wanderungsgeschichten aus Bingen - Projektablauf

2.1 Prä-Projekt-Phase: Motivation der Schülerinnen

1. Stunde:

Die Frage: Was wäre, wenn ich meine Heimat verlassen müsste? leitete die Unterrichtsreihe ein. Dieser schülerzentrierte Einstieg sollte Trennungs- und Abschiedserfahrungen der Schülerinnen ermitteln. Obwohl solche Erlebnisse in der Regel nicht mit dem Schicksal von Migranten vergleichbar sind, ist die Aufarbeitung eigener Erfahrungen eine wichtige Hilfe, sich in die psychische Situation von Migranten hineinzuversetzen (vgl. Dritte Welt Haus Bielefeld u.a. 1994: 2).


Abb. 3: Was wäre wenn ich meine Heimat verlassen müsste?

Ich legte den Schülerinnen zwei Fallbeispiele vor (vgl. Abb. 3), die sie in Partnerarbeit und anschließend im Plenum diskutieren sollten. Hierbei kamen sehr unterschiedliche Eindrücke zur Sprache. Einige Schülerinnen konnten sich gut vorstellen, für eine begrenzte Zeit ins Ausland zu gehen. Sie sahen dies als Chance und Herausforderung. Andere Schülerinnen äußerten große Bedenken, ihren Freundeskreis oder ihre Familie zu verlassen.

2. Stunde:


Abb. 4: Leitfragen zu den Interviews


Abb. 5: Wichtige Tipps zur Befragung

In der zweiten Stunde erarbeiteten wir einen Fragenkatalog, der als Leitfaden für das Gespräch diente (vgl. Abb. 4). Im Verlauf der Stunde wurde eine Interviewsituation besprochen. Die Schülerinnen trainierten die richtige Vorstellung zu Beginn des Interviews. Ergänzend teilte ich den Schülerinnen wichtige Tipps zur Durchführung eines Interviews aus (vgl. Abb. 5).

2.2 Durchführung der Befragung und Gestaltung der Plakate

In der Hauptphase des Projekts führten die Schülerinnen die Interviews durch (Zur Durchführung der Befragung als Hausaufgabe ist es wichtig, dass die Eltern vorab in einem Elternbrief informiert und um ihre Zustimmung gebeten werden. Eine Genehmigung von der Schulleitung ist ebenfalls einzuholen.). Einige besuchten Migranten aus ihrem Bekanntenkreis. Die anderen Schülerinnen griffen auf die vorgegebenen Adressen zurück. Genaue Terminabsprachen nahmen die Schülerinnen selbständig vor. Für die Verabredung hatten sie eine Woche Zeit.

3. Stunde:


Abb. 6: Kriterien für die Gestaltung der Plakate

Die Schülerinnen erarbeiteten in Partnerarbeit Kriterien, die bei der Gestaltung der Plakate beachtet werden sollten. Die größte Schwierigkeit beim Erstellen der Plakate bestand darin, die Interviewprotokolle, die teilweise mehrere Seiten Text umfassten, in kurzen und knappen Zusammenfassungen strukturiert wiederzugeben. Ergänzend recherchierten einige Schülerinnen im Internet und in der Schulbibliothek (Als zusätzliche Literatur stellte ich den Schülerinnen ein Lexikon über die ethnischen Minderheiten in Deutschland zur Verfügung; vgl. Schmalz-Jacobsen und Hansen 1997.). Sie integrierten die Zusatzinformationen über die jeweiligen Migrantengruppen in Form von Graphiken und Textbeiträgen in das Plakate. Für die Erstellung der Plakate hatten die Schülerinnen eine Woche Zeit.

4. Stunde:


Abb. 7: Ausländische Wohnbevölkerung in Rheinland – Pfalz 1955 – 1994 (Quelle: Hamburger 1997: 111)


Abb. 8: Asylsuchende in Rheinland – Pfalz 1987 - 1994 nach Hauptherkunftsländern (Quelle: Hamburger 1997: 110)

Die Zeit bis zur Präsentation der Plakate nutzten wir, um wichtige Grundlagen zum Thema Migration zu behandeln. Ich betrachtete mit den Schülerinnen die einzelnen Migrantengruppen, die nach Deutschland kommen. Zur Visualisierung setzte ich Graphiken zur Entwicklung der ausländischen Wohnbevölkerung in Rheinland Pfalz ein (vgl. Abb. 7/8). Im Anschluss diskutierten wir über das Thema Einwanderung nach Deutschland. Als Aufhänger diente die Karikatur "Das Boot ist voll" (vgl. Abb. 9). Die Schülerinnen ergänzten die Diskussion durch Berichte aus den bereits durchgeführten Interviews.


Abb. 9: Das Boot ist voll? (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 1995: 14)

2.3 Auswertung der Befragung im Unterricht

Um die Auswertungsphase nicht zu weit auszudehnen, ließ ich nur einzelne Plakate präsentieren. In jeder Stunde stand dabei ein Teilaspekt des Themas Migration im Vordergrund. Anhand der präsentierten Plakate erschlossen wir induktiv räumliche und soziale Muster der Migration.

5. Stunde:


Abb. 10: Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung in den Binger Stadtteilen

Der Schwerpunkt der 5. Stunde lag auf den räumlichen Mustern der Migration. Zwei Gruppen präsentierten ihre Plakate. In einer Tabelle erfassten wir die Wohnorte der Migranten aus allen Gruppen. Es zeigte sich, dass die meisten Migranten im städtischen Bereich von Bingen leben (Büdesheim, Bingen-Stadt, Bingerbrück). Ergänzend setzte ich eine Graphik über die Verteilung der Ausländer auf die einzelnen Stadtteile von Bingen ein (vgl. Abb. 10). Hier zeigte sich dasselbe Bild. Die ländlichen Vororte (z.B. Gaulsheim, Dromersheim, Sponsheim) weisen die geringsten Ausländeranteile auf. Im anschließenden Unterrichtsgespräch erarbeitete ich mit den Schülerinnen Gründe für die Segregation der ausländischen Wohnbevölkerung in deutschen Städten. Wir unterschieden in freiwillige Segregation, wenn ein Migrant seinen Wohnort bewußt in einem Viertel mit einem hohen ausländischen Bevölkerungsanteil wählt (z.B. durch die Nähe zu Geschäften, Gebetsräumen, Vereinslokalen oder durch den Schutz vor Diskriminierung) und gezwungene Segregation z.B. durch die Benachteiligung von Migranten auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt.

6. Stunde:


Abb. 11: Ausländer und Sozialhilfe (Quelle unbekannt)

In der 6. Stunde behandelten wir das Thema "ökonomische Folgen der Migration für Deutschland". Der Einstieg erfolgte mit einem Zeitungsausschnitt, über den Anteil der Ausländer an den Sozialhilfeempfängern, der bei 24% liegt (vgl. Abb. 11; Ich entdeckte diesen Artikel zufällig auf dem Sitz in eines Regionalzugs. Er war von jemandem kopiert und verteilt worden. Die Überschrift: „Sozialhilfe: Jeder 4. ist Ausländer“ hatte der Verteiler rot unterstrichen.). Die reisserische Aufmachung des Artikels gipfelte in der Überschrift: "Sozialhilfe: Jeder 4. ist Ausländer". In einer kurzen Diskussionsphase äußerten sich die Schülerinnen spontan zu dem Artikel.

Nach der Fixierung des Stundenthemas an der Tafel folgte die Präsentation eines Plakats. Im Mittelpunkt standen dabei Fragen zur Person der Migranten. In einer Tabelle wurden anschließend die Altersangaben der Befragten zum Zeitpunkt der Wanderung gesammelt. Es zeigte sich, dass alle Befragten zum Zeitpunkt der Wanderung unter 35 Jahre alt waren. Im anschließenden Unterrichtsgespräch diskutierten wir die Folgen dieser "Verjüngung" für die Bundesrepublik Deutschland. Ergänzend setzte ich zwei Graphiken zum Thema Einfluss der Zuwanderung auf das Steueraufkommen und die Rentenfinanzierung (vgl. Abb. 12/13) ein. Die Schülerinnen erkannten, dass im einführenden Artikel (Abb. 11) lediglich der erste Balken von Abbildung 12 (Sozialhilfe, Eingliederungshilfen) erwähnt wird. Sie stellten die Forderung auf, dass ein seriöser Journalismus auch die Einnahmen durch die Zuwanderung erwähnen muss.


Abb. 12: Staatliche Ausgaben und Einnahmen durch die Zuwanderung (1991)


Abb. 13: Einfluss der Zuwanderung auf die Rentenversicherung (1991)

2.4 Darstellung der Ergebnisse: Auszüge aus den Schülerplakaten

Die Auswertung der Interviews in Plakatform verlief ohne große Vorgaben von meiner Seite. Die Schülerinnen erarbeiteten eigenständig die Kriterien, die bei der Gestaltung der Plakate beachtet werden sollten (vgl. Abb. 6). An diesen Kriterien orientierte sich die Benotung der fertigen Plakate. Diese Offenheit sollte die Kreativität der Schülerinnen herausfordern, was zum Großteil gelang. Die Schülerplakate sind ansprechend gestaltet und liefern eine tolle Zusammenfassung der Interviewinhalte. Die sehenswerten Ergebnisse dieser Unterrichtsreihe wurden in einer Ausstellung im Schulgebäude präsentiert. Im folgenden werden einzelne Ausschnitte aus den Plakaten exemplarisch dargestellt. Sie vermitteln einen kurzen Einblick der intensiven Gespräche der Schülerinnen mit den Migranten.

In mehreren Plakaten werden Vergleiche zwischen Herkunftsland und Deutschland thematisiert:

"Über das Familienleben hier in Deutschland meint Frau D.: ‚Ich finde es schade, dass man hier nicht zusammenhält wie früher in Äthiopien. Dort hilft man den anderen in der Familie und unterstützt sie.‘ Sie meint aber auch, dass sich das geändert habe, da die Reichen immer mehr wollen, die Armen daher immer ärmer werden und sich gegenseitig nicht mehr helfen ‚Da geht auch etwas kaputt‘".
(Auszug aus dem Plakat von Christine und Mareike)

Ein Interview mit einem Arbeitsmigranten aus Tunesien vermittelt den Schülerinnen einen differenzierten Blick auf eine fremde Kultur:

"In Tunesien kommt es ganz auf das soziale Umfeld und die Umgebung an, wie ernst der Moralbegriff genommen wird. Die Toleranz gegenüber Beziehungen zwischen Jugendlichen ist in kleineren Ortschaften und Dörfern natürlich viel geringer. (...) Dort suchen die Eltern dann auch noch die Ehepartner für ihre Töchter aus. (...) Bei in Deutschland lebenden Tunesiern ist die Einstellung vergleichbar mit der in tunesischen Großstädten. Manchmal schlägt es aber auch gerade in das Gegenteil um und die Kinder werden fast noch strenger als in Tunesien erzogen."
(Auszug aus dem Plakat von Hannah und Sarah)

Das Thema Ausländerfeindlichkeit taucht in vielen Plakaten auf:

"Das einzige, was hier stört, ist der Ausländerhass, der hier leider weit verbreitet ist. Leider habe ich auch schlechte Erfahrungen damit gemacht. Fast täglich werde ich von unserem Nachbarn ‚dumm angemacht‘ und mit ‚SCHEISS RUSSENWEIB‘ oder ähnlichem beschimpft. Ich reagiere schon gar nicht mehr darauf!"
(Auszug aus dem Plakat von Madeleine)

Im Gespräch mit einer Migrantin aus Äthiopien erfahren die Schülerinnen welche Hürden ausländische Arbeitnehmerinnen bewältigen müssen:

"Die doppelte Staatsbürgerschaft würde einiges erleichtern. Zum Beispiel braucht sie eine Arbeitserlaubnis von beiden Bundesländern: von dem, wo sie wohnt (Rheinland-Pfalz) und von dem, wo sie arbeitet (Hessen). Bei dem ‚ganzen Papierkram‘ würden die sehr unfreundlichen Behörden ihr viele Steine in den Weg legen. (...) ‚Im großen und ganzen möchte ich mehr Rechte. Das macht vieles einfacher‘"
(Auszug aus dem Plakat von Christine und Mareike)

Durch die Interviews wurden einzelne Schülerinnen angeregt, sich intensiver mit den jeweiligen Migrantengruppen zu beschäftigen. Zur Illustration der Plakate entwickelten die Schülerinnen eigenständig Diagramme mit Bevölkerungszahlen der Herkunftsländer. Sie visualisierten Wanderungsströme an Karten oder stellten z.B. die Geschichte der Russlanddeutschen in einer Zeitleiste dar:


Abb. 14: Geschichte der Russlanddeutschen (Auszug aus dem Plakat von Alexandra und Sarah)
 
 


3 Nachbetrachtung des durchgeführten Projekts aus Sicht der Schülerinnen


Abb. 15: Beurteilung der Unterrichtsreihe aus Sicht der Schülerinnen (n=16)

Im Anschluss an die Unterrichtsreihe wurden die Schülerinnen gebeten, eine kurze Stellungnahme zum Projekt schriftlich abzugeben.

Die Schülerinnen beurteilten die Durchführung der Interviews mit der anschließenden Plakatgestaltung sehr positiv (vgl. Abb. 15).

Kritisiert wurde die Planung der Plakatgestaltung. Einerseits war vielen nicht klar, wie ein fertiges Plakat auszusehen hat. Sie wünschten sich mehr Vorgaben. Zum anderen war die Zeit, die für die Gestaltung der Plakate zur Verfügung stand zu kurz, zumal sie in der letzten Woche vor den Herbstferien lag, in der viele Klassenarbeiten geschrieben wurden: Einige Schülerinnen kritisierten die kurze Zeit (2 Stunden), die für die Besprechung der Plakate zur Verfügung stand. Sie wünschten sich mehr Diskussion über die Plakate und einen intensiveren Erfahrungsaustausch über die Interviews: Schlussfolgerung:

Der Verlauf der Reihe zeigte, dass es sinnvoll war, möglichst früh mit den Interviews zu beginnen. Das Interesse für die Thematik wurde bei den Schülerinnen erst durch die Gespräche mit den Migranten geweckt. In den Folgestunden konnten sie als Expertinnen Einzelheiten aus den Interviews beitragen. Dies belebte den Unterricht und brachte allen Beteiligten neue Erkenntnisse. Die Lebensgeschichten der insgesamt 10 Interviewpartner ermöglichten einen vielfältigen Einblick in das Migrationsgeschehen in Bingen.

Je nach zur Verfügung stehender Zeit sollte eine zusätzliche Stunden für die Plakatgestaltung eingeplant werden. Damit kann ein Teil der umfangreichen Arbeit aus den Hausaufgaben in den Unterricht verlegt werden. Für den Lehrer besteht in dieser Stunde die Möglichkeit, Korrekturen vorzunehmen und gezielt Anregungen zur Plakatgestaltung zu geben. Ich könnte mir zudem vorstellen, noch weitere Stunden für die Besprechung der Plakate zu nutzen, um die Folgen für die Ziel- und Quellgebiete der Migration zu vertiefen (siehe Kap. 4).
 
 


4 Fazit: Potentielle Einsatzbereiche der Unterrichtsreihe im Geographieunterricht

Die vorgestellte Unterrichtsreihe eignet sich sowohl für den Einsatz in der Oberstufe, als auch in der Mittelstufe.

In der Oberstufe lässt sich die Reihe in das Lehrplanthema: "Verteilung und Entwicklung der Weltbevölkerung" einordnen. Für die Behandlung im Leistungskurs sollte mehr Zeit als die vorgeschlagenen sechs Stunden eingeplant werden. Vertiefend könnte auf soziale Folgen der Migration für die Quellgebiete (z. B. Osttürkei) eingegangen werden. Anregungen zur Behandlung ökonomischer und sozialer Auswirkungen in den Zielländern finden sich in diesem Band. An die Behandlung der Migrationsbewegungen von und nach Deutschland sollte sich die Betrachtung der globalen Wanderungsbewegungen anschließen, damit deutlich wird, dass das Leben mit Migranten "kein spezifisch deutsches Schicksal ist, sondern eine globale Herausforderung" (Kroß 1998: 149).

In der Mittelstufe lässt sich die Unterrichtsreihe in keines der Themen des rheinland-pfälzischen Lehrplans einordnen. Trotzdem ist es sinnvoll, sich bereits frühzeitig mit dem Thema Migration zu beschäftigen. Entwicklungspsychologische Untersuchungen deuten an, dass im Alter von etwa 10 Jahren noch eine große Offenheit gegenüber fremden Menschen besteht. Im Zuge der Sozialisation werden die in der Gesellschaft bekannten Klischees übernommen. "Deshalb dürfte es sinnvoll sein, eine bewußte, didaktisch verantwortete Begegnung mit dem Fremden möglichst frühzeitig zu beginnen" (Kroß 1992: 42).

Das Projekt "Wanderungsgeschichten aus Bingen" zeigt, wie eine "Begegnung mit dem Fremden" aussehen kann. Das Erkunden fremder Welten in Bingen hat mir und den Schülerinnen die gesellschaftliche Vielfalt der Kleinstadt vor Augen geführt. Die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität ist notwendig, wenn wir unsere Schülerinnen und Schüler auf ein Leben in einer transkulturellen Gesellschaft vorbereiten wollen.


5 Literatur

Kroß, Eberhard: Internationale Erziehung im Geographieunterricht - ein Überblick über den Diskussionsstand. In: Kroß, Eberhard u. Johan van Westrhenen (Hrsg.): Internationale Erziehung im Geographieunterricht. Zweites deutsch-niederländisches Symposium - Bochum 1991. - Nürnberg 1992: 31-50 (= Geographiedidaktische Forschungen, Bd. 22).

Kroß, Eberhard: Migration als Unterrichtsthema: Genese - Intention - Modelle. In: Rinschede, Gisbert u. Josef Gareis (Hrsg.): 26. Deutscher Schulgeographentag in Regensburg 1998, Tagungsband II. Global denken - Lokal handeln: Geographieunterricht! - Kelheim 1998: 145-152 (= Regensburger Beiträge zur Didaktik der Geographie, Bd. 5).

Engber, Ursula: Migranten an unserer Schule - ein Projekt zur handlungsorientierten Annäherung für die Klassenstufen 7/8. - Stuttgart 1995 (= RAAbits Geographie. Impulse und Materialien für die kreative Unterrichtsgestaltung).

Dritte Welt Haus Bielefeld u.a. (Hrsg.): Im Jahrhundert der Flüchlinge. Unterrichtsmaterialien für Sek. I (ab Klasse 8) und Sek. II. - Bielefeld 1994.

Rohwer, Gertrude: Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht. In: geographie heute 17 (1996) 114: 4-9.

Rother, Lothar: Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht. In: Praxis Geographie 25 (1995) 7/8: 4-11.

Schmalz-Jacobsen, Cornelia und Georg Hansen (Hrsg.): Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland. - München 1997 (= Beck‘sche Reihe 1192).

Tröger, Sabine: Leben in der "Einen Welt" - Leben in der "Un-Einen Welt". In: Praxis Geographie 24 (1994) 3: 8-12.

Hamburger, Franz u. a.: Migration. Geschichte(n) - Formen - Perspektiven. Ein Arbeits- und Lesebuch für Rheinland-Pfalz. - Mainz 1997 (= Multiplikatorenpaket Politische Bildung).

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Menschen auf der Flucht. - Bonn 1995 (= Zeitlupe, H. 32).


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